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Text-Copyright © by Anka Nesch 2015

Titelbild- Copyright © by Anka Nesch 2015

Printed by CreateSpace, an Amazon.com Company
Available from Amazon.de, Amazon.com and other online stores and retail outlets
Available as Kindle Edition

Available as Tolino Edition

Titelbild: Illustration Bettina Bülow-Böll 2015 - www.bbb-malerei         
Covergestaltung: Britta Schäfer, Anka Nesch

ISBN 978-3-00-050922-3      

 

 

Das Buch​

Als die junge Polizistin Karin Rinke die Vermisstenanzeige für den 13 jährigen Tobias Bleckmann aufnimmt, ahnt sie nicht, wie sehr sie sich in die Fahndung verstricken wird. Der Fall zieht immer größere Kreise und die etwas chaotische Beamtin findet sich wider Willen mitten in den Ermittlungen nach einem Serienmörder. Selbst die spektakuläre Affäre mit ihrem Kollegen ist Teil der fieberhaften Suche nach dem Jungen. 

TAUBE WÄNDE
Psychothriller von Anka Nesch - 2015
 
Horst 1

„Herr Juchems bitte zur Information. Herr Juchems bitte!”

    Er mochte diese leicht unverständlichen Lautsprecheransagen, die in unregelmäßigen Abständen auf ihn einrieselten, während er seinen Einkaufswagen durch die Gänge schob. Er fühlte sich dann weniger einsam, weniger deplatziert. Es war ein bisschen so, als spräche da auch jemand zu ihm, als könne auch er plötzlich aufgerufen und zur Information gebeten werden.

       Es war diese Stimme aus dem Hintergrund, die Erinnerungen wach rief. Sie war unverhofft und dennoch erwartet, fordernd, ohne Raum für Widersprüche. So, wie der Vater ihn gerufen hatte, wenn er im Garten spielte: 'Komm jetzt rein, Sohn, es ist Zeit!', oder, wenn der Priester ihn hereingebeten hatte: 'Komm herein, mein Freund, leiste mir etwas Gesellschaft.'

     Bald würde auch er endlich einen Freund haben, bald. Erst aber musste er den Raum fertig stellen und deshalb war er hier, er musste sich jetzt auf das Wesentliche konzentrieren. Horst Weber schaute auf seine Einkaufsliste: Bohrer und 8er Holzschrauben standen noch aus. Diese waren ihm beim Bau des Regals über dem Bett ausgegangen. Den alten Schlagbohrer hatte er von seinem Vater geerbt. Nach jahrzehntelangem Gebrauch hatte die Maschine nun endgültig den Geist aufgegeben. Von außen sah sie noch relativ unbeschädigt aus, aber der Motor sagte keinen Mucks mehr. Sein zeitaufwändiger Versuch, das Gerät zu reparieren war leider fehlgeschlagen. Fakt war: Er hatte einen ganzen Nachmittag kostbare Zeit mit der vergeblichen Reparatur vertan.

       ‘Im Prinzip ist der Bohrer wie Mutter’, fuhr es ihm durch den Sinn. ‘Sie hat auch Vater gehört und zeigt von außen nach vielen Jahrzehnten Gebrauchsspuren. Augenscheinlich ist sie allerdings noch intakt, nur hat sie einfach ihren Geist aufgegeben. Sogar mich, ihren einzigen Sohn, erkennt sie manchmal nicht mehr. Es ist schon traurig, dass sie immer häufiger selbst meinen Namen nicht mehr weiß und mich stattdessen Karl-Heinz nennt; wie diesen verhassten Sack, obwohl der Arsch schon so lange tot ist. Ah, wie ich das hasse!’

      Am Anfang hatte er sie noch verbessert, aber schließlich hatte er die Sinnlosigkeit solcher Belehrungen eingesehen. Sie konnte sich einfach nichts mehr merken. Jedenfalls schien seine Mutter es nicht böse zu meinen. Denn jedes Mal, wenn sie ihn so nannte, sah sie wohl auch ihren verstorbenen Gatten vor sich. Sie schaute ihn dann mit der unterwürfigen, stets furchtsamen Miene an, die sie immer in der Gegenwart seines Vaters gehabt hatte. Sie war dann wieder jung und lebte in der Angst, im nächsten Moment von ihrem Mann angeschrien oder geschlagen zu werden. In solchen Phasen der Verwirrung musste er beruhigend auf sie einreden, sie behutsam aus der fehlgeschalteten Gedankenschleife, die ihr Resthirn durchkreiste, herausleiten.

         Es war sehr anstrengend mit ihr.

      Auf seine Art liebte er seine Mutter, so wie er es immer getan hatte. In seiner Zuneigung schwang jedoch seit ewigen Zeiten auch Verachtung mit. Als Kind hatte er auf sie wegen ihrer Schwäche dem Vater gegenüber herabgeschaut, hatte sie dennoch stets behüten wollen.

         Jetzt wusste sie nicht mehr, wo sie war, kannte auch oft ihren eigenen Namen nicht mehr.

      Bei den Gedanken an seine Mutter musste er plötzlich lächeln: Das Einzige, was sie noch hinkriegte, war zur Toilette zu gehen und zu kochen. Sonst nichts. Man musste sie allerdings in ihre Küche bringen, ihr die Zutaten auf die Anrichte legen und sagen: „Du musst noch Essen kochen.” Und etwas in ihr sprang an, wie ein von einem Virus kontrolliertes Computerprogramm und sie kochte wie eh und je die leckersten Sachen. Aber anziehen und waschen konnte sie sich nicht mehr, diese Programme waren unwiederbringlich von ihrer Festplatte gelöscht. Für solche Verrichtungen kamen morgens und abends die Schwestern vom Pflegedienst.

         Er hasste es, dass diese Leute ins Haus kommen mussten. Aber oft war er für einige Tage auf Geschäftsreisen und konnte Mutter natürlich nicht alleine lassen. Die Damen vom Pflegedienst waren dann seine Rettung. Er selbst konnte sich nicht überwinden, seine Mutter nackt zu sehen, was das Umkleiden nun einmal mit sich gebracht hätte. Er hatte sie nie unbekleidet gesehen und wollte damit auch beileibe jetzt nicht beginnen, wo das welke Fleisch von ihren Knochen hing und sie diesen seltsamen, leicht säuerlichen Seniorengeruch an sich hatte. Das fand er besonders ekelig und abstoßend. Früher hatte er es gehasst, seine Großmutter im Heim besuchen zu müssen, das ganze Haus voller alter Menschen hatte so durchdringend gerochen wie alte Kohlsuppe. Und jetzt hing dieser Mief an seiner Mutter, scheußlich.

    Horst hatte noch nie eine leibhaftige, unbekleidete Frau gesehen und Interesse, sich Abbildungen von solchen anzusehen, hatte er bis jetzt auch nicht verspürt. Was er manchmal so im Fernsehen sah, wenn andere sich paarten, fand er eher befremdlich und, wenn er ehrlich war, höchst langweilig. Seine Neigungen lagen auf einem ganz anderen Gebiet.

      Seine Mutter war mittlerweile sechsundsiebzig Jahre alt, bald würde sie siebenundsiebzig werden. Eigentlich war sie schon alt gewesen, als sie ihn bekam. Zweiundvierzig war sie damals. Zweiundvierzig und wenn sie auch nur geahnt hätte, was aus ihrem süßen Horstl werden würde, sie hätte es vermieden, überhaupt jemals schwanger zu werden. Aber dafür war es ja jetzt sowieso zu spät und was ihr guter Junge so Tag ein und Tag aus trieb, hatte sie nie so richtig gewusst. Und wenn sie es gewusst hätte, noch nicht einmal annähernd verstanden. Es hatte auch Zeiten gegeben, in denen sie einfach ausgeblendet hatte, was um sie herum vorging, sie wäre ja sonst verrückt geworden. Nicht umsonst hatte sie schon vor der Zeit, als Horst erst dreizehn Jahre war, angefangen Dinge zu vergessen.

     „Siebzehn bitte vier!ˮ, ertönte es erneut aus dem Lautsprecher und dann wieder: „Herr Juchems bitte zur Information, Herr Juchems, bitte!ˮ Das klang wieder gut. Er wurde aus seinen unerquicklichen Gedanken gerissen und machte sich leichten Schrittes auf in Richtung Gang 3, wo die Bohrmaschinen und Bits waren.

 

 

Die Eltern 1

 

„Georg, hast du den Jungen gesehen?ˮ

      Er schaute von der Werkbank auf und drehte sich zu seiner Frau um. „Welchen Jungen?ˮ, fragte er mit leicht genervtem Unterton zurück und blickte dabei schon wieder auf die Bohrmaschine, die er gerade reparierte. Das blöde Ding hatte es auf einmal nicht mehr getan, aber er hatte den Fehler gefunden und war gerade dabei, die Teile wieder zusammenzuschrauben. Er fühlte sich bei seiner Arbeit gestört. Die Reparatur war fummelig und langwierig gewesen, er wollte die Maschine jetzt in Ruhe wieder zusammenbauen, das verschaffte ihm eine gewisse Befriedigung. Dieser geordnete Vorgang war quasi die Belohnung für die aufwendige Fehlersuche und das Beheben desselben.

     „Tobias ist immer noch nicht aus der Schule zurück. Er hatte Sport heute Mittag und sollte eigentlich schon vor einer Dreiviertelstunde zu Hause sein.ˮ

      „Ach derˮ, antwortete der Bauer, „der ist bestimmt wieder mit dem Volker im Wald oder am Fluss unterwegs anstatt mir zu helfen.ˮ

      „Aber das macht er doch nicht ohne Mittag zu essen und mir Bescheid zu geben. Für solche Fälle hat er doch sein Handy mit. Aber da kann ich ihn auch nicht erreichen.ˮ Sie sprach mit hastiger Stimme, wirkte dabei ganz zappelig.

      „Hmˮ, brummte ihr Mann, „hm.ˮ Dabei hielt er ein Schräubchen zwischen den Lippen. „Wenn du ihn gefunden hast, sag ihm, dass er mir heute unbedingt beim Melken helfen muss. Ich fahr' ja gleich noch ins Feld, mähen.ˮ

       „Das mache ich, aber ich wollte erstmal, dass er wieder auftaucht.ˮ Tresi holte tief Luft bevor sie hinzufügte: „Aber ganz abgesehen davon finde ich, dass wir dem Jungen einfach mehr Zeit zum Spielen lassen sollten. Tobi macht so viel für die Schule und ist so ein guter Schüler.ˮ

      Unfreundlich brummte ihr Mann: „Tresi, jetzt sei aber mal ehrlich, ein bisschen Arbeit hat noch keinem geschadet. Und was seine Abwesenheit betrifft, da wirst du dich wohl so langsam dran gewöhnen müssen, dass dein Ältester mit seinen dreizehn Jahren dir nicht immer erzählt, wo er gerade steckt. 

    „Meinst du wirklich, Georg?ˮ Sie stand ratlos da und hob ganz kurz ihre Schultern an. Eine kleine, unwillkürliche Bewegung, die aber deutlich ausdrückte, dass sie anderer Meinung war. Die Einwände und das Genörgel ihres Mannes ignorierend insistierte sie erneut: „Aber das ist so gar nicht seine Art.ˮ

      Tresi überging das ewige Gestichel ihres Mannes bezüglich ihres ältesten Sohnes sehr häufig. Sie wusste, dass Georg sich nur schwer damit abfinden konnte, dass sein Sohn Abitur machen wollte. Aller Wahrscheinlichkeit nach würde er nicht den elterlichen Hof übernehmen, wie es sich eigentlich für den erstgeborenen Sohn gehörte. Sie selbst war extrem stolz auf Tobias. Er war der Klassenbeste, obwohl er vom Bauernhof kam und die Eltern ihm nicht helfen konnten. ‘Der kleine Sven wird bestimmt Bauer’, dachte sie zum wiederholten Male‚ ‘der findet nichts spannender, als die Tiere und mit seinem Spielzeug-Bauernhof zu spielen. Tobias findet Basteln und Tüfteln meistens viel interessanter.’

     „Ich rufe jetzt mal bei den Winters anˮ, teilte sie ihm mit und drehte sich zum Ausgang der Scheune. 

       „Ja, mach dasˮ, Georg war schon wieder in seine Reparaturarbeiten vertieft und schenkte ihr keine weitere Beachtung. Mit einem besorgten Seufzer wandte Tresi sich vollends ab und ging wieder hinüber ins Wohnhaus.

        In Momenten wie diesen wünschte sie sich mehr Unterstützung bei den Angelegenheiten mit den Kindern und nicht nur das fordernde unzufriedene Gebrumme ihres Mannes. Sie fühlte sich sehr alleingelassen mit der Sorge um Tobias. ‘Das hat Tobias noch nie gemacht, wo steckt er nur? Georg weiß doch wie zuverlässig der Junge ist!’

        „Hallo Renate, hier ist Tresi.ˮ

       „Ah, hi, Tresi, was verschafft mir die Ehre?ˮ, antwortete die Frau am anderen Ende der Leitung mit freundlicher Stimme. Sie mochte ihre Freundin vom Nachbarhof sehr und hatte Lust auf ein Schwätzchen.

      „Du, der Tobias ist nach der Schule noch gar nicht nach Hause gekommen und ich erreiche ihn nicht auf seinem Handy, da wollte ich fragen, ob er vielleicht bei euch ist?ˮ

        „Nee, hier ist er nichtˮ, Renate hielt verwundert inne. „Das ist ja echt seltsam. Volker ist längst da, er sitzt oben und macht hoffentlich seine Hausaufgaben.ˮ

        Wieder seufzte Tresi besorgt. Renate überlegte kurz, dann hatte sie eine Idee. „Pass auf Tresi, ich hol den Volker eben runter, dann kannst du ihn selber fragen, ob Tobias noch etwas in der Schule zu erledigen hatte.ˮ

    „Dankeˮ, sagte die Mutter und wartete mit klopfendem Herzen bis Volker den Hörer aufgenommen hatte.

         „Guten Tag Frau Bleckmannˮ, drang die Jungenstimme etwas schüchtern an ihr Ohr.

         „Hallo Volker, weißt du vielleicht wo Tobias ist?ˮ

         „Nee, aber Mama hatte mir schon gesagt, dass Tobi noch nicht zu Hause ist.ˮ

         „Ja, genau, hast du vielleicht eine Ahnung, wo er stecken könnte?ˮ

         „Neinˮ, antwortete der Junge und beide machten eine gedankenvolle Pause.

        „Das ist ja echt sonderbar, Frau Bleckmann, weil wir doch zusammen nach Hause geradelt sind.ˮ

        „Wirklich? Aber er ist gar nicht da. Hat er vielleicht etwas in der Schule vergessen und musste nochmal zurück?ˮ

        „Das weiß ich nichtˮ, er atmete hörbar ein und aus, bevor er weiter sprach: „Aber wir hatten uns für fünf bei Ihnen auf dem Hof verabredet. Wir wollten doch nach den Hausaufgaben noch angeln gehen.ˮ

      „Das ist ja alles äußerst merkwürdig.ˮ Tresi wurde wieder von ihren unruhigen Gedanken eingeholt. Hörbar atmete sie tief ein und aus, während sie sich den nächsten Schritt überlegte.             „Ich werde dann mal in der Schule anrufen, ob er dort aufgetaucht ist. Womöglich hatte er doch noch etwas vergessen oder so.ˮ

         Sie hatte es plötzlich eilig, das Gespräch zu beenden, als Volker noch etwas fragte: „Ja, soll ich denn dann gleich noch kommen, weil wir doch angeln gehen wollten?ˮ Er wunderte sich wirklich wo sein Freund abgeblieben war. Vor einer guten Stunde waren sie noch gemeinsam bis zu der Abzweigung zu seinem Haus geradelt. ‘Das macht alles irgendwie keinen Sinn’, grübelte er. Volker war mit den Hausaufgaben für Deutsch und Latein schon fast fertig und hatte sich die ganze Zeit auf das Angeln gefreut, er wollte noch Würmer sammeln und sich dann zum Bleckmannshof aufmachen.

         Tobias' Mutter riss ihn aus seinen Gedanken. „Ja, komm nur, er wird ja wohl bis dahin wieder zu Hause sein. Tschüss dann, bis gleich, ich rufe jetzt in der Schule an.ˮ Eilig legte sie den Hörer auf. Volkers 'Tschüss Frau Bleckmann, bis gleich dann', hörte sie schon nicht mehr. Zu seiner Mutter gewandt sagte er: „Das ist ja echt komisch, Mama. Tobi hat mir gar nicht erzählt, dass er noch etwas anderes vorhatte.

       „Jetzt mach dir mal keine Sorgen um deinen Freund und sieh zu, dass die Hausaufgaben fertig werden. Tobias wird schon wieder auftauchen, so schnell geht man nicht verloren.ˮ Renate legte tröstend den Arm um ihren Sohn und drückte ihn kurz an sich. Volker wand sich aus der leichten Umarmung, er mochte es nicht mehr von seiner Mutter angefasst zu werden. Sie spürte das und lächelte in sich hinein, ‘Der Junge wird älter.’

        „Willst du denn einen Kakao mit hoch nehmen?ˮ, fragte sie ihn freundlich und schaute ihn dabei aufmunternd an. Volker nickte erfreut: „Au ja, gerne!ˮ

 

 

Horst 2

 

„Horstl, kommst du mal?ˮ, rief die Mutter ihren fast Fünfjährigen in die Küche. Das Kind kam zu ihr - ein Spielzeugauto in der einen und eine Cowboyfigur in der anderen Hand. Er hatte in dem langen, breiten Hausflur, der sich bei schlechtem Wetter sehr gut zum Spielen eignete, seine eigene Welt aufgebaut. Ungern war er aus der Verfolgungsjagd, die gerade stattfand aufgetaucht. Der Junge stand jetzt vor ihr, war etwas ungeduldig, wollte eigentlich wieder zurück zu seinem Spiel: „Was ist denn, Mama?ˮ Dabei hatte der kleine Kerl seinen Lockenkopf in den Nacken gelegt, um in das Gesicht der Mutter schauen zu können. Er spürte, dass es ihr gut ging. Sie wirkte entspannt und lächelte ihn an, die Furche zwischen ihren Augenbrauen war nicht sehr ausgeprägt. Wenn sie ungeduldig oder gar böse war, vertiefte sich diese Stelle nämlich immer, teilweise schon, bevor sie mit ihm schimpfte. Horst kannte seine Mutter gut und wusste, dass im Moment die Welt für ihn soweit in Ordnung war. Von ihrem Alkoholproblem ahnte er nichts. Das Kind bekam nichts von dieser unguten Angewohnheit mit: Bisher trank sie auch nur in den Abendstunden ihren Sherry. Einerseits war er zu jung um etwas davon zu merken, geschweige denn auch nur zu verstehen. Andererseits war die Krankheit noch nicht so weit fortgeschritten, als dass sie das tägliche Leben wesentlich beeinträchtigt hätte. Aber das sollte sich alles ändern.

         Es war elf Uhr morgens.

         Karl-Heinz lag oben im Schlafzimmer im Bett und kurierte seine Erkältung aus.

         „Bringst du dem Papa mal das Fieberthermometer und den Apfel nach oben und fragst ihn, ob er sonst noch etwas braucht?ˮ

       „Och, nee, ich spiel' grad' so schön.ˮ Er hatte überhaupt keine Lust dazu, seinem Vater zu begegnen. Der kleine Junge wusste einfach zu gut, dass es besser war, ihm so weit wie möglich aus dem Weg zu gehen, aber das konnte er seiner Mutter natürlich nicht sagen. Erstens nicht, weil sie dann bestimmt richtig böse auf ihn geworden wäre, und zweitens hatte er mit seinen knapp fünf Jahren noch lange nicht die Eloquenz, ihr erklären zu können, wieso er seinem Vater am liebsten nicht unter die Augen trat.

         „Horstl, du weißt genau, dass ich dich nicht oft um etwas bitteˮ, insistierte seine Mutter.

     „Ich habe aber gar keine Lust!ˮ, der Junge stampfte mit dem Füßchen auf, um seinem Standpunkt Nachdruck zu verleihen.

       „Horst, ich muss kochen und du gehst und bringst dem Papa die Sachen, hast du mich gehört?ˮ Die Mutter hatte jetzt einen sehr bestimmenden Blick aufgesetzt, das Lächeln war aus ihrem Gesicht gewichen und die Furche zwischen den Augenbrauen war tief geworden. Daran, dass seine Mutter ihn nicht ‘Horstl’ genannt hatte, hatte der Junge schon gemerkt, dass er erst gar nicht weiter zu widersprechen brauchte.

         Er gab auf.

        Mit hängenden Schultern legte er sein Spielzeug auf den Küchentisch und nahm von seiner Mutter das in einer Hülle steckende Fieberthermometer und den Apfel entgegen, den sie gerade mit einem Trockentuch poliert hatte. Er wollte nicht alleine zu seinem Vater hoch, der war immer so unberechenbar. Aber vielleicht war es ja heute weniger schlimm, weil er noch krank war.

        ‘Hauen wird er mich wohl nicht’, dachte das Kind, ‘er ist ja krank und liegt schwach im Bett. Ich soll ihm ja nur was von der Mama geben.’

         Er stiefelte den langen Flur entlang, über dessen altes Fliesenmosaik ein schön gemusterter Läufer ausgelegt war. Ihm gefiel das Muster, man konnte richtig gut damit spielen. Es gab dort Vögelchen mit ausladenden, bunten Schwänzen und springende Rehe oder wie die Tiere mit den großen, verzweigten Geweihen hießen, Girlanden und Formen, die man gut mit den Spielzeugfiguren und Autos benutzen konnte. Lustlos erklomm er Stufe für Stufe der langen, geschwungenen Treppe. Je höher er kam, desto schwerer wurden seine Beine und desto tiefer sank sein Herz. Die Tür des Elternschlafzimmers war geschlossen. Horst klopfte vorsichtshalber an, das musste er immer machen, wenn er in ein Zimmer ging in dem Papa sich aufhielt.

         „Herein!ˮ, rief sein Vater und Horst drückte die Türklinke nach unten. 

         „Was gibt's? Was willst du denn hier?ˮ, Karl-Heinz schaute ungeduldig auf seinen Sprössling.

        „Die Mama hat gesagt, ich soll dir das Fieberthermometer und den Apfel bringen und fragen, ob du sonst noch etwas möchtest.ˮ

       „Aha, dann komm mal her und gib mir die Sachen.ˮ Horst ließ die Türklinke los, blieb aber noch unschlüssig bei der Tür stehen. Er wünschte sich, schon wieder unten im Flur bei seinem Spielzeug zu sein. Aber plötzlich änderte sich der Gesichtsausdruck seines Vaters und er schaute ganz freundlich zu ihm hinüber.

         Das war ungewohnt für das Kind.

      Da er stets auf unangenehme Überraschungen von seinem Vater gefasst war, blieb Horst misstrauisch, konnte sich aber angesichts des freundlichen Gesichtes etwas entspannen. Sein Herz klopfte aber trotzdem schneller als sonst. Er wünschte sich, nicht solch eine Angst vor seinem Papa haben zu müssen.

      „Nun komm schon, Junge , ich warteˮ, forderte der Vater ihn wieder auf, diesmal etwas ungeduldiger. Das Kind lief hinüber zum Bett.

         „Ach Horst, mach doch bitte erst die Tür wieder zu, sonst wird mir ganz kaltˮ, bat Karl-Heinz ihn jetzt mit sanfterer Stimme. Das war nun wieder ganz neu, dass der Vater ihn tatsächlich um etwas bat. Normalerweise kommandierte er nur.

       ‘Vielleicht ist er netter, weil er krank ist?’, wunderte sich Horst. Nachdem er dann die Tür wieder verschlossen hatte, ging er hinüber zu seinem Papa. Dieser nahm das Thermometer und den Apfel entgegen, legte beides auf sein Nachtschränkchen.

         „Komm mal her, Horstlˮ, während er das sagte, legte er den Arm um sein Kind und zog es zu sich auf die Bettkante. Horst setzte sich ungläubig hin. Sein Rücken versteifte sich, er war auf der Hut. Karl-Heinz hatte seinen Sohn noch nie ‘Horstl’ genannt und noch nie mit ihm gekuschelt. Horst blieb wachsam, das kam ihm alles ganz, ganz unheimlich vor. Obwohl der Vater so gutmütig wie sonst nie war, hatte der Junge richtige Angst. Das Blut rauschte durch seinen Kopf, sein Herz schlug hörbar in den Ohren: Alarmglocken! Sein Atem flog, die Händchen schwitzten. Horst wusste genau, dass es besser wäre zu gehen, aber er musste gehorchen. Vorsichtshalber sagte er nichts und rührte sich keinen Millimeter. Der Arm seines Vaters brannte durch die Kleidung auf seiner Haut.

         Karl-Heinz saß halb aufgerichtet im Bett. Zwei dicke Kissen stützten seinen Rücken, offenbar hatte er in einer Zeitschrift gelesen, die jetzt auf der anderen Bettseite lag. Karl-Heinz schlug die Bettdecke zurück und zog gleichzeitig seinen Sohn dichter zu sich heran. Er trug keine Schlafanzughose. Horst schaute verlegen weg. Er hatte seine Eltern noch nie nackt gesehen.

        „Na komm, ist schon gutˮ, beschwichtigte ihn sein Vater und mit diesen Worten zog er das Kind vollends zu sich ins Bett. Als Horsts Blick wieder an seinem Vater entlang wanderte fragte er erschrocken: „Aber, Papa warum hast du denn so einen großen Pillermann?ˮ Ihm wurde immer unwohler, Sturmglocken im Kopf. Das Kind fragte sich, was sein Papa wohl für eine seltsame Krankheit hatte.

        Der Vater gab seinem Sohn jedoch keine Antwort, sondern presste Horsts Kopf hinunter in seinen Schoß. Vor Schreck war der kleine Junge wie gelähmt, sagte keinen Mucks, versuchte nicht einmal sich zu wehren.

Später betrat Horst leise die Küche und erbrach sich mitten auf den mit ziegelroten Fliesen ausgelegten alten Fußboden. Er würgte immer wieder, bis nichts mehr als grüne Galle aus seinem Mund kam. Der Junge zitterte am ganzen Leib,  kalter Schweiß stand auf seiner Stirn, sein Gesicht war aschfahl. Waltraud, die an der Anrichte gestanden hatte und Salat putzte, hatte sich erschreckt zu ihm umgedreht und hielt ihn jetzt stützend fest. „Was ist denn los, mein Schatz, was ist denn los mit dir?ˮ Sie war ganz besorgt, es war ihm doch gerade noch richtig gut gegangen. Als Horst wieder zu Atem kam, erzählte er weinend, was passiert war.
        Die Mutter hockte sich vor ihn hin und hielt ihn mit hartem Griff an den Schultern fest. Sie schaute ihm zuerst bestürzt, dann ungläubig und zuletzt verärgert in das verschmierte Gesichtchen. Sie holte tief Luft. „Sag so etwas Böses über deinen Vater nie wieder, hörst du?! Zu niemandem! Und ich will das auch nie, nie wieder von dir hören, hast du das verstanden? Nie wieder!ˮ Ohne eine Antwort abzuwarten, wetterte sie mit gepresster Stimme weiter: „Sonst setzt es was!” Waltraud schnaufte aufgeregt. Die Furche zwischen den Augenbrauen war tief. Sie wollte nicht, dass Karl-Heinz sie hörte, andererseits musste sie ihrem Kind die Dringlichkeit ihrer Forderung klar machen. Um ihrem Verbot noch mehr Nachdruck zu verschaffen, fuhr sie in ultimativ ermahnendem Ton fort: „Wenn ich dem Papa das sagen würde, was du mir da gerade erzählt hast, dann weiß ich genau, dass er dich kaputt schlagen würde. Kaputt, hörst du?” Dabei packte sie Horsts Schultern noch fester und schüttelte den Vierjährigen, um ihm ein für alle Mal klar zu machen, wie ernst sie es meinte. Dann ließ sie die kleinen Schultern los, richtete sich wieder auf und drehte sich wortlos um. Sie holte Küchenpapier, einen Aufnehmer, einen Eimer mit Wasser und begann, den Küchenfußboden sauber zu wischen.

        Das Kind stand da, Tränen liefen aus seinen Augen, sein Mund schmeckte entsetzlich nach Erbrochenem und der ekelige Geschmack von dem, wofür es noch keinen Namen hatte, blieb im Mund. Horst stand einfach nur leise weinend da und sah der Mutter zu. Ab und zu bebten seine Schultern. In dem Brei auf dem Fußboden erkannte er noch Stückchen von seinem Frühstücksbrötchen. Dann wagte er ein verzagtes: ”Aber Mama...”

         Wutentbrannt drehte Waltraud sich zu dem Jungen um und zischte ihn gefährlich an: „Wenn du nicht sofort damit aufhörst, solche Lügen über deinen Vater zu erzählen, dann sage ich ihm auf der Stelle, was du angerichtet hast.” Dabei drohte sie ihm gefährlich mit der zum Schlag ausholenden rechten Hand. Erschrocken wich das Kind von der Mutter zurück. Das hatte sie noch nie gemacht! Er hatte schon wieder entsetzliche Angst. Würde Mama jetzt auch anfangen, ihn zu hauen?
         Waltraud ließ die Hand wieder sinken und schaute den Jungen fragend an. Sie wollte wissen, ob er es jetzt endlich kapiert hatte.

         Er hatte.

      „Ja, Mama, ja, jaˮ, stotterte und schniefte er. Unkontrolliert kamen noch einige bebende Schluchzer aus seiner Kehle, während er sich die Nase an seinem Ärmel abwischte. Dann war er still. Er hatte tatsächlich verstanden: In Wirklichkeit war wieder einmal nichts geschehen. Er hatte sich alles wieder nur eingebildet.

         Er schämte sich.

       Waltraud zog aus der Küchenschublade ein Paket Papiertaschentücher hervor und reichte ihm eins: „Hier hast du ein Taschentuch, putz dich jetzt sauber.ˮ

        Während Horst sich das Gesicht abwischte, schenkte sie ihm ein Glas Wasser ein. Horst sollte sich damit am Waschbecken den Mund ausspülen. Dazu nahm sie ihn auf den Arm, er konnte sich alleine noch nicht so weit über das Becken beugen.

      „So jetzt bist du wieder sauber, schau mich an.ˮ Sie stellte den Jungen wieder auf seine eigenen Beinchen und strich ihm durch die Locken: „Jetzt bekommst du noch leckere Schokolade von mir und dann gehst du wieder schön spielen, ja?ˮ, ihre Stimme war wieder freundlich. Sie ging hinüber zum Küchenschrank, wo sie die Süßigkeiten aufbewahrte. Sie gab ihm drei Riegel seiner geliebten Schokolade und schob ihn aus der Küche in den Flur. Dabei zischte sie erneut in sein Ohr: „Zu niemandem Horst, hast du, gehört? Zu niemandem!”, und dann fügte sie noch hinzu, „manchmal denke ich, der Papa hat Recht! In dir scheint wirklich der Teufel zu stecken, obwohl du aussiehst wie ein Engelchen. Ein richtiger Satansbraten bist du!”

        Danach genehmigte Waltraud sich zum ersten Mal bereits mittags einen Sherry. Sie war fix und fertig, aber bereits nach dem zweiten Sherry war die Welt wieder einigermaßen in Ordnung. Das Leben war eben so, wie es war, man konnte einfach nichts machen.

         Wenig später hatte Horst damit angefangen, aus sich herauszufliegen.

 

 

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